Komplex ist nicht kompliziert

Die Bewältigung von Komplexität ist in manchen Branchen ein Erfolgsfaktor für Unternehmen und gewinnt durch die aktuelle Krise noch mehr an Bedeutung. Komplexität und komplizierte Themen werden häufig gleichgesetzt. Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied, der für die Führungsarbeit bedeutsam ist und eine Auswirkung auf die Produktivität einer Organisation hat.

 

Ein Auto ist ein kompliziertes Ding. Wenn wir jedoch die Funktionen und Abhängigkeiten aller Teile verstehen, ist es nicht mehr kompliziert. Wir können unzählige Male das gleiche Auto bauen und es wird immer das Gleiche Ergebnis bringen. Kompliziertheit ist beherrschbar und damit der Output reproduzierbar. In diesem Zusammenhang sprechen wir von einem „Trivialen System“ – egal wie kompliziert es ist.

 

Ein Organismus ist ein komplexes Ding. Er steht in ständigem Austausch mit seiner Umwelt, nimmt Einflüsse auf oder wehrt sie ab und agiert autonom, hat einen Eigensinn. Das gilt selbst für kleinste Organismen und ganz besonders für Menschen. Lebende Systeme sind autonom und selbstorganisiert. Sie scheinen auf den ersten Blick berechenbar, aber sind es in Wirklichkeit nicht. Der „Output“ lebender Systeme kann sich in vielfältigen Möglichkeiten ausrücken und sorgt oft für eine Überraschung. Das unterscheidet sie von „trivialen Systemen“. Kurz gesagt:

 

Kompliziertheit ist beherrschbar, Komplexität birgt häufig Überraschungen

 

Die Professionalisierung von Organisationen begann mit der Industrialisierung. Menschen an den Fließbändern fügten sich dem Takt der Maschinen und Frederick Taylor überzeugte mit seinem Vorschlag, „Hand-“ und „Kopfarbeit“ zu trennen (1): Manager planen und organisieren, Arbeiter führen aus. Menschen wurden als Produktionsmittel (Human Ressources) gesehen, die es zu steuern gilt. Diese zentrale Steuerung von Organisationen, auch bekannt als „Command & Control“ Ansatz, ist durchaus erfolgreich bei der Optimierung von komplizieren Abläufen. Dieses Führungs- und Organisationsmodell orientiert sich an einer Maschine mit zentralen Steuereinheiten, einem trivialen System.

 

Der Industrialisierung der Welt folgte die Globalisierung des Handels. Mit der darauffolgenden digitalen Revolution konnten Wertschöpfungsketten verstärkt internationalisiert werden. Das Ergebnis dieser Entwicklung ist eine vernetzte und unübersichtliche Welt, in der sich im Vergleich zur prä-digitalen Zeit drei wesentliche Faktoren verändert haben:

 

1. Märkte und Gesellschaften unterliegen schnellen und radikalen Veränderungen (Disruptionen und ökonomische Schocks);
2. Die Komplexität hat stark zugenommen;
3. Planbarkeit hat stark abgenommen.

 

Diese Entwicklung bringt das Management unter Druck und führt zunehmend zu erschöpften Organisationen. Burnout und Boreout sind mittlerweile gut erforschte Symptome dieser Veränderung. Die aktuelle Gesundheits- und Wirtschaftskrise mag vielen nicht als der richtige Zeitpunkt erscheinen, um ineffiziente Strukturen anzupassen. Es gibt jedoch vier gute Gründe, gerade jetzt über Organisation und Führung nachzudenken:

 

a. Die Folgen der Covid-19 Pandemie macht Schwächen in Organisationen deutlicher sichtbar;
b. Dadurch drohende Risiken z. B. in Bezug auf Lieferketten oder Geschäftsmodelle verschärfen sich;
c. Es gibt mit hoher Wahrscheinlichkeit kein Zurück mehr, Gesellschaften und Märkte verändern sich nachhaltig.
d. Unsicherheit und ökonomische Verwerfungen werden noch eine ganze Weile den Ton angeben.

 

Diese Faktoren haben nicht nur Einfluss auf Unternehmen und Institutionen, sondern wirken auch makro-ökonomisch. Beispielsweise wird sich die Art wie wir bisher Arbeit in unseren Gesellschaften organisiert haben grundlegend ändern.

 

Soziale Systeme können Komplexität bewältigen – wenn man sie lässt

 

Organisationen sind soziale, und damit lebende Systeme. In Zeiten von wirtschaftlichem Wachstum und berechenbaren Märkten haben Organisationen, welche die Prinzipien „trivialer Systeme“ imitiert haben durchaus funktioniert. Heute ist das anders. Der pyramidenartige hierarchische Aufbau einer Organisation erweist sich immer häufiger dysfunktional. Die zentrale Steuerung von Organisationen entpuppt sich nicht nur als ineffizient, sondern produziert unter gewissen Umständen sogar Risiken. Dabei liegt die Lösung für einen produktiven Umgang mit der VUCA Welt (2) ironischer Weise in den Organisationen selbst. Soziale Systeme sind komplex und mit der Fähigkeit ausgestattet, Komplexität zu bewältigen. Wenn man sie lässt.

 

Erfolgreiche und resiliente Organisationen sind in gutem Kontakt mit ihren Stakeholdern und Umwelten. Sie reagieren schnell und angemessen auf veränderte Bedingungen. Entscheidungen fallen an der Peripherie, denn dort liegt die Expertise. Management ist keine Funktion mehr, sondern eine Rolle die eingenommen wird, wenn es nötig ist. Organisationsmodelle die sich weniger an trivialen Systemen, sondern eher am Strukturdesign von Zellen orientieren schaffen Bedingungen, die eine solche Selbstorganisation ermöglichen. Das Zentrum steuert nicht, sondern koordiniert und unterstützt die Peripherie, welche Impulse der Stakeholder zeitnah aufnimmt und schnell in die Wertschöpfungsketten integriert.

 

Führungsarbeit als Beitrag zur Selbstführung

 

Es gibt bereits einige innovative Unternehmen, die sich erfolgreich nach solchen Prinzipien ausrichten. Ein gern zitiertes Beispiel ist eine bekannte Handelskette, deren Filialen mit weitreichende Entscheidungskompetenzen ausgestattet sind. Die Zentrale unterstützt sie dabei. Führungsarbeit wird in diesem Unternehmen als Beitrag zur Selbstführung verstanden, welche durch die Entwicklung von Selbstorientierungskompetenz der Mitarbeiter/innen erreicht wird. Konkret drückt sich das in der Fähigkeit der Mitarbeiter/innen aus, situativ neue Einsichten zu entwickeln, sich selbst einschätzen zu können und das Wesentliche an einer Sache zu erkennen. So wird ein Unternehmen agiler.

 

Häufig ist heute zu lesen, Management sei in einer Krise. Tatsächlich sind es Organisationen die in einer Krise stecken. Es braucht jedenfalls Klarheit über den Zweck, Neugier als Grundhaltung und Strukturen, die Lernen fördern. Es ist höchste Zeit, nicht nur über lernende Organisationen zu reden, sondern sie wachsen zu lassen.

 
 

(1) The Principles of Scientific Management, Frederick Winslow Taylor, 1911
(2) VUCA = Volatility + Uncertainty + Complexity + Ambiguity

 
 

Von Chris Zvitkovits Juni 2020
Photo: Chris Zvitkovits

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