Konflikte in Organisationen sind wie Schmerzen eines Organismus

Warum der konstruktive Umgang mit Konflikten in Organisationen eine Führungsaufgabe ist und einen Unterschied macht, der einen Unterschied macht.

 

Fritz Simon hat es mit einem Satz auf den Punkt gebracht: „Organisationen sind Ambivalenzen in Struktur gegossen und Konflikte daher ein unvermeidbares Phänomen.“ Das Wesen einer Vertriebsabteilung steht im krassen Gegensatz zum Wesen einer Einkaufsabteilung. Der Sinn einer Organisation liegt darin, vorhandene Unterschiede zusammenzufassen und für das Erreichen des Unternehmenszwecks nutzbar zu machen. Heute wird allgemein anerkannt, dass eine Vielfalt an Meinungen fruchtbar ist und die Toleranz des Widerspruchs gilt als wichtige „Manager-Tugend“. Dennoch fühlen sich Führungskräfte durch ständig auftauchende Konflikte gestört. Manche sind sogar der Meinung, dass Konflikte die Folge von Führungsfehlern seien. Tatsächlich haben Konflikte in Organisationen jedoch den Sinn, vorhandene Unterschiede deutlich zu machen.

 

Eines vorweg: Bei dem Begriff „Konflikt“ denken viele an verfahrene, eskalierte und emotionale Situationen. Diese Definition greift zu kurz, denn wenn es einmal so weit gekommen ist, wurde bereits im Vorfeld einiges übersehen.

 

Organisationen bestehen aus Kommunikationen. Fritz Simon’s Zugang hat sich in der Arbeit mit Organisationen als hilfreich erwiesen, denn er definiert Konflikt als einen Kommunikationsprozess (sozialer Prozess) oder Denk- und Fühlprozess (psychischer Prozess), bei dem eine Position verneint und diese Negation ihrerseits verneint wird. Simon illustriert das anhand eines einfachen Alltagsbeispiels: Ein Paar möchte einen gemeinsamen Abend verbringen. Er sagt: „Lass uns ins Kino gehen!“, und sie sagt: „Nein.“ Wenn er sich damit zufriedengibt und die Ablehnung seines Vorschlags akzeptiert, kommt es zu keinem Konflikt. Tut er das aber nicht, sondern besteht darauf, dass sie beide miteinander ins Kino gehen, dann entsteht ein Konflikt. Sie hat seinen Vorschlag abgelehnt (negiert), und er negiert nun ihre Negation: „Doch, wir gehen ins Kino. Ich bestehe darauf!“

 

Das Ergebnis ist ein Zustand von Unentschiedenheit und dauert so lange an bis der Konflikt durch eine Entscheidung zu einem Ende kommt. Dabei muss es sich nicht um eine bewusste Entscheidung handeln, der Konflikt kann auch erlöschen.

 

Zustände von Unentschiedenheit sind für Führung relevant, denn sie haben vier wesentliche Auswirkungen in einer Organisation:

 

Verbrauch von Zeit,

Verbrauch von Energie,

Verhinderung/Verzögerung/Aufschub von Entscheidungen,

Schaffung/Aufrechterhaltung der Notwendigkeit von Entscheidungen.

 

Mache Entwicklungen brauchen Zeit um zu reifen. Kommt es jedoch zunehmend zu Reibung und Streit, ist das häufig ein Hinweis auf anstehende Entscheidungen – und damit ein Führungsthema.

 

In Führung gehen

 

Führung hat zwei zentrale Funktionen, die lebenswichtig für eine Organisation sind: Verbinden und Entscheiden. Einerseits müssen die Verbindungen zwischen der Organisation und den wichtigsten Umwelten gesichert und gepflegt werden, denn ohne Mitarbeiter/innen, Kund/inn/en oder Lieferant/inn/en gibt es kein Überleben. Andererseits muss die Organisation lebensfähig gehalten werden, indem Wichtiges von Unwichtigem getrennt und Alternativen ausgeschieden werden. Dies drückt sich in Entscheidungen zu Ressourcen, Spielregeln, Personal, Zielen und Strategien aus. Entscheidungen reduzieren Komplexität, geben Orientierung und Sicherheit. Konflikte in Organisationen markieren einen Zustand von Unentschiedenheit. Ihre Funktion ist mit jener von Schmerzen für einen Körper vergleichbar. Sie verlangen nach Aufmerksamkeit und können im Extremfall auf Bedrohungen für das Gesamtsystem hinweisen. Die Behandlung des Symptoms beseitigt allerdings nur selten das eigentliche Leiden.

 

Ein Unterschied, der einen Unterschied macht

 

Um zwischen Symptom und dem eigentlichen Thema unterscheiden zu können, ist ein systemischer Blick auf Kommunikation hilfreich. Denn Konflikte sind ein Kommunikationsphänomen und Kommunikation eine zentrale Aufgabe von Führung.

 

Wir nehmen die Welt, die uns umgibt nicht objektiv wahr. Jeder Moment konfrontiert uns mit einer großen Auswahl an Sinneseindrücken. Unser Gehirn verfügt jedoch nur über eine begrenzte Verarbeitungskapazität, daher nehmen wir die Phänomene die uns umgeben selektiv wahr. Das was wir selektiert haben wird in einem inneren Prozess beschrieben, erklärt und bewertet. Diese Filterfunktion hilft die Komplexität mit der wir konfrontiert sind zu reduzieren, gleichzeitig entstehen aber auch blinde Flecken, da wir nicht alle Sinneseindrücke in unserem Wahrnehmungsprozess berücksichtigen könnten. Wir erstellen gewissermaßen innere Landkarten von den Landschaften die uns umgeben, haben jedoch nie ein vollständiges Bild unserer Umwelten. Das Erstellen der inneren Landkarten wird zudem auch von unserem aktuellen mentalen Zustand, Gefühlen, unseren Erfahrungen und Themen die uns aktuell beschäftigen, beeinflusst. Eigentlich sollte man in diesem Zusammenhang eher von Wahrgebung als von Wahrnehmung sprechen: Wir erstellen Wirklichkeitskonstruktionen, die immer nur Teile der Strukturen und Prozesse erfassen, die uns umgeben.

 

Die Unterscheidung zwischen Landschaften, also relevanten Umwelten und inneren Landkarten, ist für die Bearbeitung von Konflikten sehr hilfreich. Zwischen Personen und Gruppen kann es über den Zustand relevanter Umwelten zu Konflikten kommen. Ein Klassiker in Organisationen ist der Streit zu Veränderung versus Erhalten. Luhmann empfiehlt für die Analyse der Wirklichkeit zwischen drei Dimensionen zu unterscheiden: Sach-, Sozial- und Zeitdimension.

 

Ordnung in die Themen bringen

 

Ein Streit hat meistens einen Gegenstand (Issues, Themen). Wenn es darum geht, Entscheidungen über die Ordnung der Dinge zu treffen, steigt mit den möglichen Alternativen das Konfliktpotenzial. Auseinandersetzungen die zu Entscheidungen führen werden meist als nützlich erlebt, solange sie sich auf die Sachdimension beschränken. Oft ist es allerdings nicht vorhersehbar, wer mit seinem Bild der Zukunft recht hat. In Unternehmen sind Sachentscheidungen zudem häufig mit individuellen Interessen verbunden, wodurch es zu persönlichen Konflikten kommen kann.

 

Verschiebt sich eine Auseinandersetzung von der Sachebene auf Beziehungsaspekte der Kommunikation, ist der Konflikt in der Sozialdimension angelangt. Beziehungskonflikte nehmen in Organisationen viel Platz ein. Die Sozialdimension ist in Organisationen von besonderer Bedeutung, da hier Beziehungen in hierarchischer Weise an Rollen gekoppelt sind, die von Personen eingenommen werden. Die Koppelung durch Rollen soll das Verhalten von Mitgliedern der Organisation berechen- und steuerbar machen. Werden Erwartungen an Rollen (Beziehungen) enttäuscht, kann dies zu inneren Konflikten und Widerständen bei Mitarbeiter/innen führen. Zusätzlich beeinflussen auch die Spielregeln und Strukturen einer Organisation das Verhalten der Mitglieder und können beispielsweise im Falle widersprüchlicher Zielvorgaben Personen vor Entscheidungsdilemmata stellen, die ebenfalls innere Konflikte mit negativen Auswirkungen für die Organisation zur Folge haben können. Ein Beispiel sind manche Vergütungssysteme. In solchen Fällen wird die Organisation selbst zur Konfliktpartei.

 

Von besonderer Bedeutung für die Konfliktdynamik ist der Zeitdruck. Dieser verkürzt die Kommunikation und legitimiert damit Hierarchiebildung oder kann für autoritäre Entscheidungen genutzt werden. Zeitdruck ist nützlich, um eine Auseinandersetzung auf der Sachebene zu verhindern, und ist folglich auf der Beziehungsebene (Sozialdimension) wirksam. Ein weiterer Aspekt der Zeitdimension ist, dass Konflikte stets in der Gegenwart stattfinden, ihre Themen beziehen sich jedoch fast immer auf Vergangenheit und Zukunft. Der Vergangenheit wird viel Bedeutung zugemessen, weil das gegenwärtige Verhalten durch Verweise auf die Vergangenheit legitimiert wird. Folglich geht es bei der Vergangenheitsorientierung im Konflikt weniger um eine Klärung der Sachebene, sondern viel mehr um die Sozialdimension. Es geht zumeist darum, wer den Preis (für Schuld) zu zahlen hat. Die Beschleunigung der Arbeitswelt im Zuge der Digitalisierung trägt übrigens häufig dazu bei, dass Auseinandersetzungen von der Sachebene in die Sozialdimension verschoben werden.

 

Eskalationen verstellen den Blick auf die Themen

 

Diese drei Sinndimensionen beeinflussen einander und manchmal kann nicht eindeutig erkannt werden, ob ein angesprochenes Thema tatsächlich das Streitthema ist. Wird ein Sachthema verwendet, um Macht und Position abzusichern, wird dieses Thema zur Beziehungsdefinition genutzt. So kann ein Thema innerhalb kurzer Zeit seine Bedeutung verlieren. Für die Konfliktbearbeitung ist es daher wichtig diese drei Dimensionen zu unterscheiden.

 

Der Zusammenhang zwischen den Sinndimensionen kann anhand des Verlaufs entlang der Eskalationsstufen nach Fritz Glasl beobachtet werden, weil sich deren Gewichtung ändert. Die Wichtigkeit der Sachdimension (Inhalte), nimmt ab, die Bedeutung der Sozialdimension (Beziehungsebene) nimmt zu, und die Zeit zwischen Entscheidungen und Handlungen verkürzt sich. Daraus wird deutlich, dass nicht Konflikte, sondern Eskalationen vermieden werden müssen.

 

In der Praxis der Konfliktbearbeitung zeigt sich, dass eine Analyse des Problems nur dann zu Lösungen beiträgt, wenn die Themen auf der Sachebene bearbeitet werden können. Das ist in Organisationen jedoch meist nur bei geringer Komplexität oder technischen Problemen der Fall. Eine vergangenheitsbezogene Analyse von Ursachen fördert eher Wechselbeziehungen zwischen den Sinndimensionen zulasten der Sachebene. Es ist daher häufig nicht bedeutsam zu verstehen, wie das Problem entstanden ist. Tatsächlich entstehen Lösungen fast immer unabhängig vom Problem.

 

Unterschiede positiv nutzen

 

Resiliente Organisationen analysieren nicht die Probleme der Vergangenheit, sondern konstruieren Lösungen aus der Perspektive einer wünschenswerten Zukunft. Im Fokus stehen dabei neben positiven Zukunftsbildern auch die konsequente Ausrichtung auf positive Unterschiede und Ressourcen. In solchen Organisationen sind Konflikte keine Bedrohung, sondern rücken relevante Unterschiede ins Blickfeld. Damit werden Krisen zum Anlass für Entwicklung.

 

Aus konstruktivistischer Sicht hat kein Phänomen an sich eine Bedeutung, aber alles was wir Wahrnehmen erzeugt ohne unser Zutun Gedanken und Emotionen. Diese haben sogar medizinisch messbare körperlich Auswirkungen und daher könnten wir auch sagen, unser Erleben erzeugt Energie. Wir können diese Kraft nutzen oder uns dagegenstellen. Wie sie wirkt hängt davon ab wie wir das Erfasste beschreiben, in Beziehung setzen und damit umgehen. Das ist sowohl für die Konfliktbearbeitung als auch für Führungsarbeit von praktischer Bedeutung, denn Entwicklung und Veränderung braucht Energie. Unterschiedliche Perspektiven in Kommunikation zu bringen ist anfangs manchmal anstrengend, wandelt aber letztlich Blockaden in vitale Kraft.

 

Das Beste was eine Führungskraft machen kann, ist eine Organisation zu gestalten, die intelligenter ist als er oder sie. Das bedeutet, sich mit Leuten zu umgeben, die Dinge können und wissen, die man selbst nicht kann und das dann so zu mischen, dass Dinge dabei herauskommen die konstruktiv sind. So entstehen in der Folge auch intelligente Entscheidungen. Die kulturellen Anforderungen an eine solche Organisation liegen auf der Hand: Achtsamer Umgang mit Unterschieden, eine lösungsfokussierte Ausrichtung und wertschätzende Kommunikation. Zusätzlich muss das Führungssystem für Rollenklarheit sorgen und die Strukturen sowie Spielregeln im Blick haben. Wenn das gelingt, ist die Organisation um eine wertschöpfende Komponente reicher geworden, nämlich einer konstruktiven Konflikt- und Fehlerkultur.

 

Von Chris Zvitkovits, Januar 2019

Photo: Chris Zvitkovits

 

 

Literatur

Friedrich Glasl: Konfliktmanagement. Ein Handbuch für Führungskräfte, Beraterinnen und Berater. Verlag Freies Geistleben Stuttgart, 2011.

Martina Scheinecker: Lösungsfokussiertes Konfliktmanagement in Organisationen. Der kürzeste Weg zur nachhaltigen Lösung. In PersonalEntwicklerIn, 157, Erg.-Lfg., Februar 2012.

Gerhard Schwarz: Konfliktmanagement. Konflikte erkennen, analysieren, lösen. Gabler, 2010.

Ruth Seliger: Das Dschungelbuch der Führung. Carl-Auer Verlag, 2008.

Fritz B. Simon: Einführung in die Systemtheorie des Konflikts. Karl-Auer Verlag, 2012.

Chris Zvitkovits: Solution-focused Conflict Survey. Positive Selbstdiagnose bei Konflikten in Organisationen. Rainer Hampp Verlag, 2015.

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